Eine evangelikale Beziehungstheologie

Was ist Wahrheit ?

Wenn ein lebendiger Glaube und biblische Recht­gläubigkeit die zwei Säulen darstellen, was hat das für einen Einfluss auf unsere Suche nach der endgültigen Wahrheit? Was sind die Grundlagen einer evangelikalen Beziehungs­theologie?

Das Evangelium erzählt die Geschichte von Gott, der in Jesus unter uns Menschen gelebt hat und wie die Jünger durch diese Beziehung das Leben gefunden haben. Sie wurden Zeugen dieser Geschichte, dieser guten Nachricht, damit auch wir dem gleichen lebenden Christus begegnen können. Der Apostel Johannes schreibt:

Das Leben ist erschienen, und wir haben gesehen und bezeugen und verkündigen euch das Leben… was wir gesehen und gehört haben, das verkündigen wir euch, auf dass ihr mit uns Gemeinschaft habt; und unsere Gemeinschaft ist mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus. (1.Joh1,2-3)

Martin Luther sagte, dass die Bibel die Krippe ist, in der man Christus findet. Ohne die Krippe wird man Christus nicht finden. Aber man darf das Christkind nicht mit der Krippe verwechseln. Wir lieben die Bibel, weil wir Jesus in ihr finden. Aber wir haben keine Beziehung zu einem Buch, sondern zu dem lebendigen Wort, Jesus Christus. Die Bibel ist die Beziehungs-orientierte Selbst-Offenbarung Gottes und nicht in erster Linie eine Sammlung von Sachinformationen und Lehr­aussagen über Gott. Das primäre Ziel ist vielmehr eine Begegnung mit Jesus, die uns zu einer lebendigen, heilenden und verändernden Be­ziehung mit Gott führt. Die Schrift ist kein Selbstzweck, sondern weist uns genau darauf hin.

Die Lehr-Aussagen in der Bibel dienen alle dem Zweck der Beziehung. Wir werden über Gottes Charakter informiert, und wie unsere Beziehung zu Gott aussieht. Deshalb ist die Bibel voll von Wahrheiten, die uns alle zu einer lebendigen Beziehung führen sollen. Welchen Einfluss hat es auf die Bedeutung der Schrift, wenn wir Beziehungen als das zentrale Thema des Christen­tums definieren? In der Bibel begegnen wir dem Leben und der Botschaft von Jesus, der persönlichen Offenbarung der Liebe Gottes zu uns. Die Schrift ist normativ, weil sie uns zeigt, wie Beziehungen aussehen sollen. Sie zeigt uns, wie wir in einer dunklen Welt mit den Augen der Hoffnung, des Glaubens und der Barmherzigkeit sehen können. Sie zeigt uns, wie wir uns und andere mit den Augen Jesu sehen können, der sein Leben für die Geringsten gab. Sie formt unser Denken über uns, unsere Welt und unsere Vorstellungen über Beziehungen.

Es ist wichtig zu betonen, dass Beziehungs­theologie nicht eine Theologie der individuellen oder gemeinschaftlichen Erfahrungen ist. Auch wenn uns unsere Erfahrung auf die objektive Realität Gottes verweist, würde ein Ansatz, der auf menschlicher Erfahrung basiert zurecht als subjektiv kritisiert werden, weil er letztendlich die Wahrheit in der menschlichen Wahrnehmung sucht. Beziehung fängt bei Gott an, der sich uns selbst offenbart. Anstatt mit subjektiver menschlicher Erfahrung beginnt Beziehungs-Theologie mit objektiver göttlicher Selbst­offenbarung. Gemäß dem Wesley’schen Viereck (Schrift, Vernunft, Tradition, Erfahrung) liefert die Bibel die hermeneutische Linse, mit Hilfe derer wir unsere Erfahrung verstehen können. Sie liefert uns den größeren Zusammenhang in dem wir unsere Geschichte als Teil dieser größeren verstehen. Die Schrift bildet den Anfangspunkt jeglicher Tradition. Sie schützt uns vor den Gefahren einer rein weltlichen Vernunft indem sie uns zu der göttlichen Weisheit vom Kreuz führt, die auf den ersten Blick als unvernünftig erscheinen kann (1. Kor. 1,18-25). Vernunft, die aus gefallenen und subjektiven menschlichen Annahmen erwächst, kann uns nicht zu Gott führen, denn unser Denken ist genauso in Sünde gefangen wie unsere Erfahrungen. Erst durch die göttliche Selbstoffenbarung in Jesus Christus können wir lernen den „Sinn Christi“ zu haben – vorausgesetzt wir bleiben in dieser Beziehung. Dies beinhaltet so unübliche und un-intuitive Vorstellungen wie „Leben finden, wenn wir es verlieren“ und „der Größte ist ein Sklave“.

Bezugnehmend auf das Wesley’sche Viereck ist die Schrift auch deswegen vorrangig, weil sie unsere Erfahrungen informiert, unser Denken formt und die Quelle aller Tradition und aller steter Reformation ist. Ganz gemäß dem Motto der Reformation: „ecclesia reformata, semper reformanda secundum verbum Dei“ (Die reformierte Kirche muss stets gemäß Gottes Wort reformiert werden). Die Schrift ist also das Fundament. Aber das Fundament von was? Welches Gebäude wollen wir auf diesem Fundament errichten? Das Ziel biblischer Theologie ist nicht die Aufrichtung eines Lehrgebäudes, sondern sie dient zur Befähigung von Christus-ähnlichen Beziehungen. Und die Mittel dazu sind Gottes Offenbarungen über sich selbst, wie wir sie in der Bibel finden.

Wenn wir also den Kern des Christentums als Beziehung verstehen, dann besteht die Rolle der Theologie darin, der Gemeinde dabei zu dienen, die Beziehung zu Gott und anderen auszuleben. Die Aufgabe der Bibel als Herzstück des Vierecks ist es nicht, abstrakte Lehrformeln zu definieren, sondern den Inhalt unseres Denkens und unserer Erfahrung zu formen, und die Richtung vorzugeben, in die sich unsere Tradition entwickelt. Kurz, das Ziel der Schrift ist die Hinführung zu einer Beziehung mit Jesus Christus, Gottes Selbst-Offenbarung.

Obwohl die Schrift eine zentrale Rolle bei all dem spielt, hat sie auch eine dienende Rolle, die uns in eine Beziehung führen soll. Die Schrift ist vorrangig, sie ist der Ober-Diener, der uns zu Christus führt. Ihre Vorrangigkeit besteht nicht darin, dass sie uns zur Stütze unseres Glaubens eine auf menschlicher Grundlage gebildeten Wissensbasis der absoluten Realität definiert. Vielmehr besteht ihre Vorrangigkeit darin, dass sie uns zu einer Begegnung mit demjenigen, der uns absolute Realität ist, führt. Nicht ein Lehrgebäude ist die Grundlage, sondern Jesus Christus. Dies zu unter­scheiden ist wichtig, denn unser Glaube basiert nicht auf einem statischen Buch, sondern gründet auf der lebendigen Realität des Herrn Jesus, die in diesem Buch bezeugt wird. Jesus sagte nicht „Ich habe die Wahrheit“ sondern „Ich bin die Wahrheit (Joh. 14,6). Jesus ist die lebendige Wahrheit, die die Seiten der Bibel lebendig macht.

Es geht nicht so sehr darum unseren Glauben auf zeitlose Wahrheiten zurückzuführen, als vielmehr um die Entdeckung einer Beziehung mit der lebendigen Wahrheit in der Person Jesu Christi. Die zeitlosen Wahrheiten, die wir in der Schrift finden, können uns helfen uns zu dieser richtigen Beziehung zu führen, aber ihr Ziel und Fokus ist diese erlebte Beziehung. Der Sinn des Vierecks liegt also nicht darin, Grundkriterien zur Ableitung von Wahrheiten zu geben, unabhängig von Gott. Es ist vielmehr ein Hilfsmittel, durch das wir hören können, was Gott uns persönlich sagen will. Durch diese Beziehung können wir in unserem Leben Gottes Gnade erfahren, das Wesen Jesu ausbilden, und unsere Christus-Ähnlichkeit in der Gemeinschaft des Glaubens ausleben.

Alles ist relativ

Das Wesley‘ sche Viereck beginnt mit den beiden Säulen der katholischen Kirche – Schrift und Tradition – und fügt die zwei akzeptierten methodologischen Kriterien der Aufklärung hinzu: Verstand und Erfahrung. (Erfahrung bedeutet hier sowohl, im Sinne der Aufklärung, empirische Evidenz, was Wesley’s Begriff des „erfahrbaren Glaubens“ entspricht, aber auch die persönliche Erfahrung eines lebendigen Glaubens, was er „Herzensreligion“ nennt.) Hier erkennen wir den kulturellen Hintergrund in dem Wesley lebte. Er wollte einerseits seinem katholischen Glauben treu bleiben, gleichzeitig aber die neuen Möglichkeiten und Einsichten der Moderne einbeziehen. Aus heutiger, post­moderner Sicht müssen wir sein Viereck deutlich weniger optimistisch bewerten als Wesley. Nicht nur weil wir die Fehlbarkeit von Tradition und mächtigen Strömungen wie die Aufklärung vor Augen haben, sondern auch die Subjektivität und kulturelle Voreingenommenheit von Denken und Erfahrung. Und auch die Bibel ist – genauso wie die drei anderen Punkte – als fehlbares menschliches Dokument angegriffen worden.

Deshalb versuchten Fundamentalisten die Unfehlbarkeit der Bibel zu beweisen. Aber selbst wenn wir von der Annahme einer fehlerfreien und unfehlbaren Bibel ausgehen, wird dieser Ansatz doch sehr schnell irrelevant und akademisch, wenn man berücksichtigt, dass die Texte aus anderen Sprachen und Kulturen übersetzt wurden und von Menschen gelesen werden, die ihrerseits nicht irrtumsfrei sind und Fehlern unterliegen. Es gibt einfach zu viele Möglichkeiten des Missverstehens. Selbst wenn die Bibel also unfehlbar ist (wovon ich ausgehe) – wir sind es nicht. Dies führt uns geradewegs zu dem Bewusstsein unserer eigenen Fehlbarkeit und der daraus resultierenden Notwendigkeit einer vertrauensvollen Beziehung zu „dem einen Absoluten“. Weil unsere eigenen Grundlagen scheitern, bleibt uns nur noch Jesus Christus als die Grundlage, die wir nicht fassen können und die nicht von uns stammt. Letztendlich kann eine Bejahung der Unfehlbarkeit der Bibel keine Aussage über menschen-basierte Sicherheiten sein, sondern ist eine Aussage über ein auf Gott basierendes Vertrauen. Das Vertrauen, dass Gott trotz unserer Begrenztheit in der Lage ist, die Schrift zu bewahren und dazu zu nutzen, Wahrheiten in unser Leben zu sprechen und uns darüber hinaus, Gottes Herz und seinen Willen zu einer Beziehung zu uns offen zu legen.

Eine Theologie der Beziehungen versteht die Schrift nicht als eine Quelle von unabhängig von Gott verstehbaren absoluten Wahrheiten; viel­mehr vermittelt sie uns eine Begegnung mit der absoluten Wahrheit: dem Beziehungs-Gott. Und das mitten in unseren Begrenzungen und unserer Fehlbarkeit als subjektive Menschen. Selbst­verständlich haben wir ein verlässliches Fundament. Nicht, weil wir in Besitz der Wahr­heit sind, sondern weil die Wahrheit uns besitzt. Diese Sicherheit in Abhängigkeit bewahrt us vor Überheblichkeit und Anmaßung. Gerade wegen unserer Fehlbarkeit können wir kein Monopol auf die Wahrheit beanspruchen. Aber die Wahrheit kann ein Monopol auf uns beanspruchen, wenn wir unser Leben dem öffnen, der die Wahrheit ist. Und sogar die Bibel bestätigt uns, dass wir fehlbare Menschen sind, die sich irren können. Aber unser Glaube hängt nicht an perfekten Formulierungen und ist nicht abhängig von irgend etwas was wir tun könnten. Sondern es ist Gott, der uns hält, selbst in unserer Schwachheit und Abhängigkeit. Wahrheit ist nicht Etwas, was wir überheblich besitzen, sondern Jemand, den wir demütig suchen.

Schon Karl Barth betonte dadurch, dass er Christus zur Voraussetzung von jeglichen Schriftvertändniss machte, dass Gott durch die Schrift nicht nur initial („von Gott eingehaucht“), sondern auch beziehungsorientiert, durch Erleuchtung (Gott bläst Leben in die Seiten und offenbart unseren Herzen die Wahrheit) interagiert. Die Fehlerfreiheit und Irrtums­losigkeit der Schrift gründet sich also nicht so sehr auf den Text selbst, sondern in der Fähigkeit des Geistes uns, trotz unserer Grenzen und Sündhaftigkeit, die Wahrheit durch den Text verlässlich zu vermitteln. Unsere Grundlage ist also Christus, Gottes ewiger Logos, das Wort, das schon existierte, als noch nicht ein einziges Wort geschrieben war, und auf den alle Schrift hinweist. Wir sehen also, dass die Wahrheit nicht abstrakt und statisch, sondern persönlich und lebendig ist. Wir erkennen die Wahrheit durch eine lebendige, aktive und abhängige Beziehung zu der Wahrheit: Jesus. Das Wort Gottes finden wir nicht in den statischen Fakten eines Buches, sondern in dem Rema-Wort Gottes, welches Leben in die Seiten bläst und so zu einer heiligen Sache, einem Sakrament für uns wird, in welchem wir dem lebenden Gott begegnen.